Nachtgedanken 4
„Ich komme jetzt Heim“ – von Sebastian
„Wenn wir heute bei niemandem schlafen können, fahren wir einfach in ein Hostel.“ sage ich zu Jil auf der Autobahn von Heidelberg nach Leipzig. Ohne diese Gewissheit und Sicherheit, dass wir irgendwo unterkommen werden, könnten wir diese Reise nicht machen.
Wir kommen bei Bekannten von Bekannten unter. Gestern sind wir in Heidelberg losgefahren und wussten noch nicht, ob wir in Dresden oder Leipzig schlafen können. Aber wir haben gewisse „Eintrittskarten“. Freunde, die uns empfehlen. Eine Handynummer, unter der man uns problemlos erreicht. Eine gemeinsam geteilte Sprache, in der wir mir potentiellen Gastgebern sprechen können. Am Ende der Fahrt kamen wir in Leipzig an und bezogen ein Zimmer, das wir für die nächsten Tage „zu Hause“ nennen. Ohne das Netzwerk der Jugendpresse, ohne unsere Freunde und deren Freunde, ohne Menschen, die uns wohl gesonnen sind, würden wir keine Schlafplätze haben. Unsere ganze Tour wäre ohne Unterstützung gar nicht möglich. Dafür sind wir sehr dankbar.
Zugleich wird uns in solchen Momenten deutlich, wie ungerecht das ist. Wir haben nichts dafür getan, dass wir diese „Eintrittskarten“ haben. Und die Menschen, die in Deutschland ankommen, können nichts dafür, dass sie keine solche „Eintrittskarten“ haben. Weil Herkunft nichts ist, was wir uns aussuchen können und Sprachen erstmal gelernt werden müssen. Weil unsere Bekanntschaften uns nur dort helfen können, wo sie hinreichen. Weil „Flüchtling“ wie ein Stempel funktioniert, der Vieles unmöglich macht. Was wäre, wenn diese Eintrittskarten weniger willkürlich verteilt würden oder zumindest weniger Gewicht im alltäglichen Leben hätten?
„Bring mich nach Hause“ – von Jil
„Wenn wir heute bei niemandem schlafen können, fahren wir einfach in ein Hostel“ sagt Sebastian auf dem Weg von Heidelberg nach Leipzig. Ich sitze neben ihm im Auto, ich bin müde. Der Regen läuft die Scheibe an meiner Wange lang. „Einfach in ein Hostel.“
Auf der Reise durften wir bei einem Mädchen aus Freiburg schlafen, gekannt hat sie uns vor unserer ersten Begegnung nicht. Sie hatte mitbekommen, dass die Willkommenskultour nach Freiburg kommen würde und uns einen Schlafplatz angeboten. Sie war, kurz bevor wir bei ihr ankamen, auf Osteuropareise und dabei unwissentlich auf dem gleichen Weg wie viele Geflüchtete: auf der Balkanroute. Auf ihrer Reise hat sie viele Flüchtlinge getroffen und viele syrische Familien, die auf der Straße schlafen mussten, weil es nirgends Platz für sie gab. Niemand seine Türen geöffnet hat. Die Familien hatten genug Geld in der Tasche für ein Hostelzimmer. Aber sie hatten nicht die richtige Eintrittskarte. Konkret: nicht den richtigen Pass. Aus Angst vor Ablehnung der anderen Hostelgäste verwehrte man ihnen den Eintritt. Das Mädchen aus Freiburg nicht. Sie ließ eine Familie bei sich im Hostelzimmer schlafen und hielt kaum aus, dass mehr nicht drin war.
Dass wir „einfach in ein Hostel“ fahren können, gibt mir ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit. Dieses Gefühl nistet sich irgendwo zwischen Magen und Lunge ein und lässt mich nicht schlafen. Ich weiß, warum wir immer überall einen Platz finden werden. In unseren vollgepackten Rucksäcken liegen magische Eintrittskarten, in meinem Fall ist das ein dunkelroter Reisepass. Er wird mir im Zweifel jede Tür öffnen, das weiß ich. Ein 21-jähriger Student aus Syrien, den wir unterwegs kennengelernt haben, fragt mich vor jeder Station über facebook, ob wir schon wissen, wo wir schlafen. Wenn wir nicht weiter wüssten – wir könnten immer zu ihm kommen. In ein Zimmer in Osnabrück, das er sich mit seinem Bruder und einem weiteren Geflüchteten teilt. Jedes Mal muss ich sagen: „ich weiß es noch nicht genau, aber wir werden ganz sicher unterkommen.“ Aber erklären kann ich ihm nicht, warum ich mir keine Sorgen um mich mache, er sich aber offenbar schon. Wenn er weiß, dass wir sicher angekommen sind, schreibt er „Thank God“.
Was wäre, wenn die Sorgen über Sicherheit ein bisschen gerechter verteilt wären? Würde ich dann vielleicht besser schlafen?